Die erste Kunst- und Künstlergeschichte soll dem italienischen Fotografen LUCA ANZALONE gewidmet sein.

Erstens steht Luca Anzalone auf unserer alphabetischen Künstlerliste ganz oben, zweitens ist Luca der jüngste Künstler, den wir bislang ausgestellt haben, denn er ist Jahrgang 1995, und drittens ist Luca gebürtig aus Parma, einer wunderschönen Stadt in der italienischen Emilia Romagna, wo seit Wochen das Coronavirus tobt und alles lahmlegt. Wir alle blicken mit großer Sorge nach Italien, das Land, das viele von uns lieben. Aber dieses Land, wo die Zitronen blühn erlebt derzeit apokalyptische Zustände und liegt ausgestreckt am Boden.

Entdeckt haben wir Luca Anzalone in einem englischsprachigen Online-Magazin für Kunst, Architektur, Fotografie und Design. Dem jungen Italiener war dort ein langer Artikel gewidmet, welcher die Körper-Fotografien des „Newcomers“ in höchsten Tönen lobte und als Spezial-Tipp empfahl. Auch uns hatten diese skulpturalen Körper sofort in ihren Bann gezogen, denn Luca Anzalones Fotografien bestechen durch dieses gewisse Etwas von Magie und Erotik, von Sinnlichkeit und Melancholie. Das Geheimnis der italienischen (im Übrigen sehr verletzlichen) Seele basiert nämlich genau auf der Mischung von sinnlicher Erotik und geheimnisvoller Melancholie.

Obwohl Luca Anzalone nach dem Abitur das „Kaff“ Parma (so seine Worte) verlassen hat, um in Großbritannien Photography zu studieren (er hat sein Studium an der Arts University Bournemouth mit Auszeichnung beendet) und obwohl er inzwischen als erfolgreicher Fotograf in London lebt, der allerdings jetzt auch unter der Ausgangssperre leidet und keine Shootings machen kann, sind seine Fotos im Kern noch die Bilder eines Italieners, der im Land eines Donatello, Michelangelo, Bernini usw. aufgewachsen ist. Aber nicht nur, denn in Lucas Körperbildern schwingt auch eine subversive Freiheit und eine anarchische Unabhängigkeit mit, die ich durchaus als „very british“ bezeichnen würde. Genau diese Schnittmenge ist es vermutlich, die dem jungen Wahlbriten schnell zum Erfolg verhalf. Denn London ist zwar der ideale Ort, um als junger Fotograf seinen eigenen Stil zu entwickeln, aber London ist auch ein Haifischbecken, in dem nur bestehen kann, wer „tough“ und gut ist.

Aber nochmals kurz zurück zum Künstler und zu unserer ersten körperlichen Begegnung, die etwas auf sich warten ließ. Eigentlich ging ich bei meiner ersten Mail an Luca davon aus, dass diese nach Italien geht, doch die Antwort kam prompt aus London. Ehrlich gesagt wäre uns Italien lieber gewesen, denn in Zeiten des Brexit sind die Geschäfte und der Warenverkehr mit Großbritannien für eine kleine Galerie wie unsere eher kompliziert und aufwändig. Aber da Luca auf meine Ausstellungs-Anfrage spontan mit „JA“ geantwortet hatte, stand ein Rückzug nicht mehr zur Debatte, zumal wir ihm sogar eine Deutschland-Premiere bieten konnten!

So trafen wir also die Bildauswahl für die geplante Frühsommerausstellung 2019 mit dem Titel „bildSCHÖN“ online, was ja heutzutage kein Problem mehr ist. Der Künstler gab seine Fotografien in London in Druck und schickte diese nach Ravensburg. Wir kümmerten uns um die gewünschte Rahmung. Denn Luca sieht seine Fotos als Gemälde, will also keine Glasrahmung, sondern bat darum, die Abzüge auf Museumskarton kaschieren zu lassen und sie mit einer Schattenfugenrahmung zu präsentieren.

Die Vernissage unserer Ausstellung, zu der Luca Anzalone unbedingt persönlich erscheinen wollte, hatten wir für den 17. Mai um 19.30 Uhr festgelegt. Der Fotograf hatte sich für den Nachmittag angekündigt, um die Bilder noch in Ruhe zu signieren, um die Titel festzulegen und um uns und die Galerie kennenlernen zu können. Gegen 18.30 Uhr begannen wir langsam nervös zu werden, denn es war weit und breit kein Luca in Sicht. Was wir bis dato nicht wussten war, dass der Künstler NICHT wie vermutet aus London kam, sondern dass er zunächst nach Parma geflogen war, um in Begleitung seiner Eltern, die seine Deutschlandpremiere keineswegs verpassen wollten, mit dem Auto nach Ravensburg zu fahren, wo er sich, ohne unsere Hilfe zu beanspruchen, sogar um eine Ferienwohnung bemüht hatte. Per Handy antwortete er mir dann gegen 19 Uhr (arrivo subito = ich bin gleich da) … und in der Tat stand Luca Anzalone in seiner weißen Hose kurz vor knapp in der Galerie und gab seinen Bildern noch spontan italienische Titel wie z.B. „curvatura“, „primavera“, „simbiosi“, „aurora“. Während Stefanie Büchele die Preisliste fertigstellen konnte, assistierte ich dem Fotografen beim rückseitigen Signieren seiner Werke.

Luca Anzalone versprühte sofort den Charme eines jungen Italieners unter den Vernissage-Gästen, seine stolzen Eltern fotografierten ihren Sohn in der deutschen Galerie und im Anschluss genossen sie deutsches Bier, Maultaschen, Schnitzel und deutschen Salat im Gasthaus Mohren, wo wir unsere Vernissagen gerne ausklingen lassen.

Unser Abschied von Luca war wie die erste Begegnung: kurz und herzlich! Denn schon am Folgetag musste die Familie Anzalone wieder zurück nach Italien, weil Luca bereits zwei Foto-Shootings in einem Palazzo in Kalabrien vereinbart hatte. Ravensburg sei übrigens ähnlich schön wie Parma, erfuhren wir noch zum Abschied.

Da die Akzeptanz von Fotografie als Kunstform oftmals noch einen schwereren Standpunkt hat als klassische Gattungen wie Malerei oder Skulptur,  hatten wir den Fotografen um ein Statement gebeten, das er uns auf Englisch schickte und das sich in deutscher Übersetzung so liest:

„Meine Fotografien wollen die Grenzen zwischen Fantasie und Realität verwischen; ihre surreale, performative Qualität verdreht die stereotypen Erzählungen der klassischen Kultur.  Was wir ständig als Realität zu definieren versuchen, ist nur eine Illusion in unserem Gehirn, ich spiele lieber mit diesem Konzept. Meine Bilder erinnern an eine Welt wie Alice im Wunderland, eine Mischung aus Logik und Unsinn, die nebeneinander gestellt werden, um experimentelle und theatralische Fotos zu schaffen, die einen zutiefst sinnlichen Duft von Subtilität und Anmut verströmen.

Ich möchte immer die Grenzen dessen, was man in meinen Bildern empfinden kann, ausreizen. Ich bin daran interessiert, Kunst zu produzieren, die eine Illusion von etwas hervorrufen kann, das wir in der realen Welt wahrnehmen könnten. Bei meinen Fotografien geht es nur um Berührung. Sie zeigen die ständige Beziehung zwischen Modell und Material, mit einer Vielzahl von Stoffen, Netzen, Farben, Kreiden und Objekten. Ich sehe Fotografien gerne als phantasievolle Türen in ein inneres Universum, in dem wir uns zur Hälfte daran erinnern können, wie das Foto im wirklichen Leben aussehen würde, und zur Hälfte es von Grund auf neu erschaffen können. Bei diesen Szenen geht es um die Kraft der Vorstellungskraft des Betrachters, die alle fünf Sinne anspricht, um eine unwirkliche Erinnerung in unserem Geist wieder herzustellen.

Die Natur und die Umwelt haben meine Arbeit immer beeinflusst. Ich habe zunächst Biologie, Chemie und Landwirtschaft studiert, bevor ich mich für ein Fotografiestudium beworben habe. Es gibt so viel Kunst in der Natur, dass die Welt der Perfektion innerhalb der Unvollkommenheit die Kraft hat, meinen Körper und meine Seele zu verbinden. Ich bin auch von den Impressionisten inspiriert, deren Mischung aus Realität und Abstraktion von Tönen und Formen mich stark beeinflusst hat. Nach der Fertigstellung eines Werkes wird mir immer klar, dass ich unbeabsichtigt etwas ausgedrückt habe, worüber ich ursprünglich nicht nachgedacht habe. Die Geschichten neigen dazu, von inneren Gefühlen und subtilen Momenten zu handeln, und in ihrer seltsamen Surrealität fesseln sie die Aufmerksamkeit des Betrachters.“

(alle Fotos wurden mit einer analogen Mittelformat-Filmkamera aufgenommen)

Wer sich intensiver mit den Fotografien von Luca Anzalone beschäftigt, begreift sehr gut, was der Fotograf mit dem Spiel zwischen Illusion und Realität bezweckt. Der Fotograf legt seinen Fokus ganz gezielt auf das Dazwischen und er schafft es auf wunderbare Art, mit Körpern zu „spielen“, ohne den Motiven ihre Würde zu nehmen. Ganz im Gegenteil wertet Anzalone die Beziehung von Raum und Mensch auf und eröffnet uns Betrachter*innen neue Blickachsen und Denkmuster!

Dass es in Anzalones Fotografien „nur um Berührung“ geht, wie er selbst sagt, ist gerade in Zeiten des öffentlichen Berührverbots eine besonders starke Botschaft. Denn Anzalones Botschaft reicht weit über die rein physische Berührung hinaus und schafft Raum für sinnliche Berührung mit Menschen, Dingen und Gedanken. Versuchen Sie es selbst!

© Andrea Dreher, März 2020