Die dritte Kunst- und Künstlergeschichte soll einen Blick hinter die Kulissen der Künstlerin Karin Brosa werfen.

Meine erste Begegnung mit einem Kunstwerk von Karin Brosa liegt schon ein paar Jahre zurück, es war zunächst eine Einladungskarte, also „nur“ eine Abbildung. Dann sah ich die ersten Originale im Museum Villa Rot, stand vor einer vermeintlichen Kinderzeichnung und dachte … „was ist denn das?!“ Irritiert starrte nicht nur ich auf ein buntes Kinderbild mit vertrauten Motiven wie Baum, Vogel, Igel, Pilz, Schmetterling, Spinne, blauer Himmel (nur die Sonne im oberen Bildeck fehlte), denn inmitten dieser Natur-Idylle standen drei bewaffnete Kinder, die einen unbewaffneten und etwas verträumt wirkenden Jugendlichen auf dem Fahrrad bedrohten. Drei gegen Einen, Kinder können brutal sein, Kinder spielen Krieg! Ich habe selbst einmal als ca. 12 Jährige mit meiner „Straßen-Gang“ ein schüchternes Mädchen aus unserem Dorf rund ums Haus gejagt …, bis plötzlich der Vater dieses Mädchens vor uns stand, seine Tochter beschützte und uns gewaltig anschrie. Uns war das Herz komplett in die Hose gerutscht, und ich wünschte mir damals, dass sich der Boden unter meinen Füßen öffnete, um vor Scham verschwinden zu können. Natürlich waren wir alle unbewaffnet, aber dieses Ereignis werde ich wohl nie vergessen. Fast alle haben wir als Kinder irgendwann „mit Pistolen schießen“ geübt, mit irgendwelchen Stöcken im Wald oder auch mit Plastikwaffen. An Fasching durften wir ja sogar legal in die Rollen schießender Cowboys oder meuternder Piraten schlüpfen. Will sagen, in den meisten von uns steckt immer auch der Wunsch nach Macht und nach Geltung, und zwar von klein auf.

Obwohl vollkommen abgeschweift, sind wir im Grunde schon mittendrin in der Bildwelt von Karin Brosa.

So schreibt die Kunsthistorikerin Vanessa Charlotte Heitland über die Künstlerin: „Karin Brosas Arbeiten sind moderne Gleichnisse. Auf bitterböse und zugleich poetische Weise erzählen sie Geschichten und wecken Emotionen. Sie stellen unsere Wahrnehmung auf die Probe und beschwören Bilder aus unserem Inneren herauf, die uns nachdenken lassen und uns auffordern, unsere Gewohnheiten zu hinterfragen“.

Entsprechend lechzen die Arbeiten dieser Künstlerin nach dem zweiten und dem dritten Blick, denn Brosas Geschichten wollen entdeckt und begriffen werden, und dieses Schauen erfordert Zeit. Vielleicht hat der eine oder die andere von Ihnen - bedingt durch die aktuelle Kontaktsperre - jetzt mehr Zeit und Ruhe. Wenn ja, so kann ich Sie nur einladen, sich auf Karins Brosas Kunst einzulassen und dabei das Risiko einzugehen oder die Chance zu nutzen (!), verdrängte oder vergessene Geschichten aus dem eigenen Leben Revue passieren zu lassen.

Sehr zu empfehlen ist es übrigens, sich mit Kindern die Bilder von Karin Brosa anzusehen und zu hören, was die Kleinen zu den Technik-Käfern aus der Serie „Coleoptera“ sagen, wenn z.B. echte Käfer und technische Drohnen aufeinandertreffen. Spannend ist es auch zu erfahren, wie Kinder auf die Kuscheltier-Motive „BANG“ reagieren und was ihnen da so alles in den Sinn kommt.

Für uns Erwachsene gibt es auch jede Menge Stoff zum Träumen. Ich persönlich bin z.B. ein großer Fan des Motivs der Maria mit VR (virtual reality)-Brille, denn diese gesamte Szenerie ist zum einen derart absurd und zum anderen eine absolut coole Interpretation des traditionellen Motivs der „Maria im Rosenhag“. Hiervon gibt es zwei wunderbare Werke von Stefan Lochner und Martin Schongauer aus dem 15. Jahrhundert. Während die Gottesmutter bei den mittelalterlichen Meistern von Engeln umringt ist, führt bei Brosas Motiv das Kabel der VR-Brille gen Himmel …, die Rosen (Dornen = Passion) wurden durch drei (die Zahl ist natürlich kein Zufall = Trinität) echte Kakteen ersetzt, und ein mit Rettungsweste ausgestattetes Huhn scheint schnellstmöglich die Gefahrenzone verlassen zu wollen.

Wer sich intensiver mit der Kunst Brosas auseinandersetzt, kann sich gut vorstellen, dass in ihrem Atelier zwingend auch ein Bild zur aktuellen Corona-Pandemie entstehen musste. Herausgekommen ist das ergreifende Kleinformat mit dem Titel „Noli me tangere“ (berühre mich nicht), das eine thronende Maria mit Christuskind zeigt. Die Augen der Maria sind geschlossen, ihre Nase und ihren Mund verdeckt eine medizinische Atemschutzmaske. Das Kind sitzt unschuldig auf dem Schoß der Mutter und blickt uns Betrachtern frontal an. Man wagt es zwar kaum denken, aber dieses Bild ist in seiner Darstellung so überzeugend, fast als hätte Karin Brosa auf diese Situation gewartet …

Für diejenigen von Ihnen, die sich in der christlichen Kunstgeschichte ein wenig auskennen, sei noch erwähnt, dass der Titel „Noli me tangere“ natürlich einem anderen Bildmotiv zugrunde liegt. „Berühre mich nicht“ sagt laut der Bibel nach Johannes 20,14-18 Christus am Ostermorgen an Maria Magdalena, die ihn nicht im Grab findet und den Auferstandenen zunächst für den Gärtner hält.

Karin Brosa stammt übrigens aus dem oberschwäbischen Tettnang und hat zunächst Pharmazie studiert und im Anschluss in Berlin als Apothekerin gearbeitet, um erst in einem zweiten Schritt an der Stuttgarter Akademie ein Kunststudium mit Schwerpunkt „Freie Graphik“ draufzusatteln und dieses erfolgreich mit Diplom abzuschließen. Von 2016 bis April 2019 leitete sie die druckgrafischen Werkstätten der Universität Duisburg-Essen und seit Frühjahr 2019 ist sie künstlerische Lehrkraft für besondere Aufgaben an der Philipps-Universität Marburg. Karin Brosa ist deutschlandweit in Galerien, jurierten Ausstellungen und auf Kunstmessen vertreten.

Wer allerdings im Internet als Suchoption „Brosa Tettnang“ eingibt, landet zunächst nicht bei der Künstlerin, sondern bei der BROSA AG, einem erfolgreichen Technologie-Unternehmen mit Standort in Tettnang. Inzwischen wissen wir, dass der Großvater der Künstlerin ein genialer Erfinder und tatsächlich der Gründer der BROSA AG war. Entsprechend stolz sind wir, dass es uns im vergangenen Jahr gelungen ist, unter dem Motto „Brosa trifft Brosa“ die Technik-Käfer-Serie der Künstlerin Karin Brosa im Tettnanger Unternehmen zu platzieren und zusammen mit dem Aufsichtsrat, der Geschäftsführung und der Künstlerin, die dafür eigens aus Marburg angereist war, feierlich einzuweihen.

Wer schon immer wissen wollte, was sich hinter Begriffen wie „Aquatinta, Strichätzung, Kaltnadelradierung“ usw. verbirgt, kann anhand der zahlreichen Graphik-Editionen von Karin Brosa sein Wissen schulen. Sie ist in der Tat eine Meisterin ihres Fachs und sagt selbst, dass so manches Motiv schneller gemalt wäre als es gedruckt ist. Denn das technische Knowhow, das hinter einer Druckgraphik steckt, ist enorm. Ursprünglich dienten druckgraphische Editionen dazu, beliebte Motive „unters Volk zu bringen“, so war beispielsweise Albrecht Dürer nicht nur ein genialer Maler, sondern er verdankt seinen Ruf unbedingt auch den Druckgraphik-Editionen. Denn der Kunst-Unternehmer Dürer ließ einzelne Motive und Bildzyklen in hohen Auflagen drucken, um erstens mehr Geld zu verdienen und um zweitens einen viel höheren Bekanntheitsgrad zu erreichen. Heute hingegen entstehen Druckgraphiken in der Regel in kleinen Auflagen, bei Karin Brosa sind das oft zwischen fünf oder zehn handsignierte Abzüge pro Motiv. Immer noch gilt Druckgraphik übrigens als Einstiegskunst, denn sie ist deutlich günstiger als ein Bild-Unikat, und keineswegs schlechter. Das wissen nicht nur die Graphischen Sammlungen und die Kupferstichkabinette!

© Andrea Dreher, April 2020