Bei der vierten Kunst- und Künstlergeschichte werfen wir wieder einen Blick nach Berlin, ins Atelier des Malers und Zeichners Andreas Amrhein.

Andreas Amrhein schickte mir Ende März nachts um 5 Uhr eine Mail mit dem „Selfie“ und einem kurzen Text, den ich sehr gerne an den Anfang dieser Geschichte stellen möchte. Auf meine Frage, warum er denn zu dieser nachtschlafenden Zeit noch arbeite, antwortete er „Tja, zu solchen Zeiten ist das ruhige Berlin nochmal stiller…“!

Hier nun also der O-Ton des Künstlers aus dem stillen Berlin:

"Time is on my side"

Ich arbeite seit einigen Wochen an einer Serie großformatiger Radierungen, die ich in den 90er Jahren gedruckt habe. Damals habe ich auf ein Meter breiten Kupfer- oder Zinkplatten Radierungen hergestellt und diese noch an der Hochschule in kleinen Auflagen gedruckt.

Im vergangenen Jahr habe ich alles gesichtet, mich von einem Großteil getrennt, einige wenige Drucke aber bewusst behalten - mit der Absicht, jene Blätter nach und nach zu übermalen.

Auf einigen entstehen Porzellanfiguren, auf anderen Gestalten, Formen und Zeichen aus meinem persönlichen Repertoire; viel Obst und Gemüse ist neuerdings auch dabei.

Mich reizt der Kontrast der meist gestischen Schwarz-Weiß-Arbeiten von vor 25 Jahren, die den Hintergrund bilden, zu sehr durchgearbeiteten, realistischen Gegenständen (oder Figuren aus der klassischen Comic-Kultur), die darüber gelegt werden.

Das Bild "Taming the Tiger" ist noch nicht fertig, aber "nah dran"...

….

Wann Kunstwerke fertig sind, gehört mit zu den größten Atelier-Geheimnissen. Ich ertappe mich immer wieder, wie ich mich und unsere Künstler*innen frage, wann und warum der letzte Pinselstrich im Bild erfolgte. Die Antworten darauf sind mehr oder weniger vage bzw. diese Frage kann nicht zufriedenstellend sprachlich beantwortet werden. Denn beim Arbeiten am Kunstwerk muss der Moment gefunden werden, in dem alles oder das Wichtigste „gesagt“ ist und noch nicht alles preisgegeben wurde. Der verstorbene Bildhauer Werner Stötzer sagte einmal zu mir, dass er an einer Skulptur aufhören müsse, bevor sein Werk fertig sei, um dem Stein sein Geheimnis zu bewahren, denn „fertig“ sei ein ganz schreckliches Wort in der Kunst. Diese Antwort gefällt mir bis heute und ich denke, sie trifft die Sache auf den Punkt.

Andreas Amrheins letzte Publikation, die von seiner Berliner Galerie C&K herausgegeben wurde, trug den Titel: „HEROES  - JUST FOR ONE DAY“. Im Moment erleben wir eine Welt, die aus den Fugen geraten ist und die plötzlich viele neue „Helden des Alltags“-Geschichten hervorbringt. Wir kennen sie alle, die in den Medien gefeierten neuen Helden, vielleicht gehören Einzelne von uns auch dazu.

Andreas Amrhein müsste sich im Moment als Künstler verstanden und bestätigt fühlen, denn sein Werk kreist schon lange um neue Helden (und ganz wichtig: unseren klischeehaften Heldenkult!) und um Geschichten, die das Leben schreibt oder die das Leben schreiben könnte. Dieser Konjunktiv ist dem Künstler wichtig, denn Andreas ist im normalen Leben ein absolut vernünftiger Realist, kein Performer, kein Alphatier, kein „Hallo, ich bin ein Berliner Künstler-Typ“. Aber was seine Kunst betrifft, so hat Andreas die Kraft des malerischen Konjunktivs für sich entdeckt. So gibt’s in seinem Werk viele wunderbare Ebenen des „hätte, könnte, schiene, wäre, würde“, aber in der künstlerischen Umsetzung gibt es überhaupt kein Zögern, Zaudern, Zweifeln, Hoffen, sondern eine unglaubliche Motivpräsenz und Konzentration auf das Handwerk.

Im erwähnten Heroes-Katalog lud Andreas Amrhein Freunde und Weggefährten ein, kleine Statements zu verfassen. Eines davon stammt von Annalena, seiner Tochter. Sie zeichnete zwei Comic-Figuren mit folgendem Text. Fragt der eine: „Was haben denn Donald Duck und Captain America miteinander zu tun?“ Antwortet der andere: „Gar nichts“. Hierauf der Fragende: „Typisch Andreas Amrhein!“

Andreas habe ich über seine aus Ravensburg stammende Frau Ute Wöllmann kennengelernt. Ute ist Malerin, war Meisterschülerin bei Baselitz, ist Autorin und Galeristin und – last but not least - leitet sie erfolgreich die Akademie für Malerei in der Hardenbergstraße Berlin. Auch Andreas ist einer der Dozenten dieser erfolgreichen Akademie, denn er ist ein Meister seines Fachs und er kann gut lehren, also Wissen teilen und andere zum Tun motivieren. Mit seiner Frau hat Andreas also nicht nur eine fachkompetente Partnerin an seiner Seite, sondern auch eine konstruktive Kritikerin. Sein Atelier gehört ihm indes ganz alleine, es ist seit Jahrzehnten dasselbe und ein wunderbarer Rückzugsort in einem keineswegs hippen Stadtteil Berlins. Andreas malt nämlich in einem 1960er Jahre-Wohngebiet, hier wohnen ganz normale Menschen, es gibt dort keine Kneipen, Läden, Clubs oder Schaulustige vor dem Haus, die Ablenkung von der Kunst findet also woanders statt. Ich erinnere mich an den ersten Besuch in diesem Atelier vor ca. 15 Jahren, es herrschte eine wunderbare Ruhe, das Licht war gut, alles war sehr aufgeräumt … und plötzlich stand da ein krasser Porzellan-Rapper auf einer riesigen Leinwand. Mit seiner Rapper-Serie und der Ausstellung „Rappers Delight“ beim Berliner Galeristen Michael Schultz begann damals der Durchbruch und die Erfolgsgeschichte des Andreas Amrhein, denn hier prallten Welten und derart viele malerische Konjunktive aufeinander, dass es einem (der Kunstwelt!) einfach die Sprache verschlug.

Andreas Amrhein wurde übrigens in Marburg geboren, wuchs in Liberia/Westafrika auf, studierte Bildende Kunst in Berlin, London, Malmö und Chicago. An der HdK Berlin machte er bei Prof. Walter Stöhrer seinen Meisterschüler-Abschluss. Während in den 1990er Jahren hauptsächlich Papierarbeiten entstanden, erlebte die Malerei in Amrheins Œuvre ihren Durchbruch erst mit dem neuen Jahrtausend.

In seinen Leinwand- und Papierarbeiten der letzten Jahre montiert er gängige Klischees in verfremdende Bildhintergründe, so tauchen in den Arbeiten z.B. amerikanische Butterbanderolen, das Burger King-Logo, italienische Käseverpackungen, die Cola-Flasche uvm. auf – Motive, die der Maler nicht wegen der Ikonographie, sondern wegen deren formaler Schönheit und Bedeutung symbolisch einsetzt. Das Wahrzeichen seiner Kunst ist seit über 15 Jahren die (historische) Porzellanfigur. Sie wird als Hauptakteur, gerne übrigens als Hybrid, also menschlicher Körper und tierischer Kopf,  inszeniert und ist dabei zu einem wichtigen Bildmotiv geworden. Nymphenburg, Meissen, Royal Kopenhagen – Amrhein kennt sie alle, diese großen Porzellanmanufakturen!

Er hat die Orte besucht, viele Skulpturen im Original betrachtet und Fotos gemacht, die er als Bildvorlagen nutzt. Nur eine Porzellanfigur gehört ihm selbst, es ist der Schäferhund auf einem der „Rapper“-Gemälde, ein Familienerbstück, allerdings aus einer unbekannten Manufaktur.

Andreas Amrhein ist ein außergewöhnlicher Jongleur der Mittel, die ihn zum malerischen Ziel führen, nämlich mit seiner Kunst in einen kritisch-ironischen Dialog zu treten. Er entwickle ein Werk, das quasi seine Weltsicht spiegle, so der Künstler. Wenn man seine Arbeiten dann noch in Bezug zu den Bildtiteln setzt, so wird der Kreis um die Kunst des Andreas Amrhein immer illustrer, aber auch bizarrer. Denn „Bilder, die sich lückenlos aufschlüsseln lassen“, so der Künstler, „verlieren ihren Reiz.“ Außerdem, so eine weitere Erkenntnis des Künstlers, habe heute ja im Grunde alles mit allem zu tun. Alt, neu, Vintage, Retro, alles bedingt sich gegenseitig und inspiriert die Kunst, das Design und unser Leben.

Seine Kunst versteht Amrhein aber unbedingt auch als Gegenentwurf zum gesellschaftlich „Optimierten“, denn er hat den Anspruch, in jedem Werk auch dem Zufall Raum zu lassen.

Einen zunehmend wichtigen Stellenwert nimmt das „Beijing-Berlin-Projekt“ ein. Auf Einladung von Tan Ping, Professor und Vizepräsident der Central Academy of Fine Arts, Beijing wurde Andreas Amrhein wiederholt nach China eingeladen, um in der Druckwerkstatt der China National Printmaking Base in Guanlan zu arbeiten. Wenn Andreas über diese wertvolle Zeit, seine neuen Kontakte und seine großartigen Künstlerfreundschaften spricht, dann leuchten seine Augen wie die eines Kindes.

Apropos Kind …

Vorgestern hörte ich auf der Straße ein rollerfahrendes Mädchen zu seiner Mutter sagen:

„Mama, wenn Corona vorbei ist, dann möchte ich …“, das Ende des Satzes konnte ich akustisch nicht verstehen.

Ja, was möchten wir alle tun und haben, wenn Corona vorbei ist …! Wird Corona unsere persönliche Wunschliste verändert haben? Gut möglich.

Andreas Amrhein hat auf alle Fälle jetzt schon eine Vielzahl wunderbarer Bildergeschichten für die Zeit nach Corona bereit und wir können gespannt sein, welche neuen Heldengeschichten in den kommenden Monaten sein Berliner Atelier verlassen werden. Eine kennen wir schon, die Geschichte des Tigers, die inzwischen beendet sein dürfte.

© Andrea Dreher, April 2020