Ich wollte eigentlich vom Stein weg und habe an der Akademie unter anderem mit Wachs experimentiert. Doch dann war da plötzlich diese Linie und ich wusste, sie ist es…

Die aus dem Altmühltal stammende Bildhauerin Silvia Jung-Wiesenmayer (*1966) kam erst spät(er) zur Kunst. Als junge Mutter von zwei Kindern absolvierte sie zunächst eine Steinmetzlehre, um im Anschluss an der Akademie in Stuttgart Bildhauerei zu studieren. Seither geht sie unbeirrbar und erfolgreich ihren Weg als freie Bildhauerin mit Atelier im Allgäu und hat inzwischen diverse Kunstpreise gewonnen, zuletzt den Kunstpreis der Stadt Augsburg im Spätsommer 2019.

Wer mit der Künstlerin in ihrem Ateliergarten sitzt und umgeben ist von einzelnen ihrer Kunstwerke, die wie selbstverständlich über die Wiese verteilt auf ihren Sockeln liegen, spürt die wohltuende Wirkung dieser hoch ästhetischen Kunst. Denn  Silvia gelingt es, aus Stein, organischer Form und Licht abstrakte Gebilde zu schaffen, die ganz nebenbei „unsere Seele streicheln“.

Die ständig wechselnden Nuancierungen von Licht und Schatten rufen diverse innere Bilder in uns wach, so erinnern sie z.B. auch an die Rechenspuren im Sand japanischer Zengärten, wo das meditative Harken im Sand die Weite des Meeres symbolisieren soll. Mit einem Rechen, der den Wind darstellt, zeichnen Mönche kontinuierlich die Wellen des Meeres als Spuren in den Sand. Solche Zengärten gibt es längst auch im Pocketformat für die Schreibtische von uns Laien, mit dem Ziel, unsere Konzentration damit anzuregen und in der Folge möglichst kreative Gedanken zu entwickeln.

Doch bei Silvia Jung-Wiesenmayr ist alles viel komplizierter und unvergänglicher. Ihre Kunst wirkt zwar wie hingehaucht, ist aber das Ergebnis harter und hoch konzentrierter Arbeit am Stein. Im Ateliergarten und in der Steinmetzwerkstatt der Familie Jung-Wiesenmayer erleben wir eine perfekte Symbiose von Steinmetzkunst und Skulptur. Nichts ist hier künstlich, nichts ist gestellt, nichts ist beschönigt oder gar lieblich, sondern was hier entsteht, ist absolut ehrlich und in hohem Maße bodenständig und trotzdem innovativ!

Die Oberflächenstruktur (auch Textur genannt) ist auf alle Fälle ein Leitmotiv im künstlerischen Werk von Silvia Jung-Wiesenmayer. So ist es nicht der harte Marmor, der sie als Material reizt, sondern grauer Schweizer Sandstein aus dem Kanton St. Gallen, den die Bildhauerin für ihre neuen Steinarbeiten mit dem Winkelschleifer behandelt, um aus ihm Faltungen, Linien und Grate heraus zu arbeiten. Inzwischen kann man diese linear-organischen Steinskulpturen durchaus als das Alleinstellungsmerkmal der Bildhauerin bezeichnen. Ihr gelingt in diesen Arbeiten der perfekt Spagat zwischen Geometrie und Sinnlichkeit und zwischen Strenge und Form.

Aber die Bildhauerin ist keineswegs nur auf den Stein fixiert. Auf ihrer Suche nach Ornamenten stieß sie vor Jahren auf historische Spitzendecken, von Frauen geklöppelt oder gehäkelt und heute auf Flohmärkten verramscht. Mit der Ehrfurcht vor der Handarbeit denkt die Allgäuer Bildhauerin die Geschichte des Ornaments weiter. Sie nimmt Pigmente, zupft, formt oder bildet in Wachs und schüttet wertvolle Farbpigmente zu. Ihre Spitzen-Objekte sind eine Hommage an das Alte, aber vollkommen neu interpretiert!

Doch das ist noch längst nicht alles, denn im Atelier der Künstlerin stehen auch jede Menge Nagellackflaschen und Fineliner auf dem Arbeitstisch. Mit diesen zeichnet sie und arbeitet sich frei vom Stein. Während die Nagellacke zu poppig-abstrakten Ringen auf weißem Papier verschmelzen, präsentieren die eleganten Fineliner-Zeichnungen eine echte ornamentale Augenweide. Trotz aller Freiheit der Kompositionen und der stilistischen Mittel taucht mit der Kreisform jedoch eine verlässliche Konstante im Werk von Silvia Jung-Wiesenmayer auf. Aus der Urform des Kreises heraus interpretiert die Künstlerin ihre Vorstellung von Harmonie immer wieder neu.

Silvia Jung-Wiesenmayer denkt und handelt stets ergebnisoffen und prozessorientiert. Ihre eigene ästhetische Wahrnehmung des Raums steht immer am Anfang ihrer Arbeit. Was nun folgt, ist die nötige Geduld und die Zeit, um mit unterschiedlichen Materialien neue Texturen zu schaffen!

Dass sich Räume verändern und verschwinden, spielt im Werk dieser Künstlerin ebenfalls eine wichtige Rolle. Vergänglichkeit wird von ihr nicht tabuisiert, sondern als ein wichtiger Impuls aufgegriffen.

So schafft die Bildhauerin in ihren Kunstwerken eine Bildsprache, die sich aus der Überlagerung von alten und neuen Ge-Schichten zusammensetzt und neue Denk- und Wahrnehmungsmuster entstehen lässt. Die bildkünstlerische Strategie von Jung-Wiesenmayer beruht auf der steten Wiederholung einzelner Motive und auf der fragilen Schönheit ihrer Objekte.

Den Begriff der Schönheit verwendet sie im Übrigen nicht für ihr Werk, vielleicht aus Furcht, nach kunsthandwerklichen Kriterien und somit verkürzt beurteilt zu werden. Dieses Urteil überlässt sie daher uns, den Betrachterinnen und Betrachtern.

Die Kunstwerke von Silvia Jung-Wiesenmayer sind von einer kraftvoll-zarten Eleganz geprägt. Sie eignen sich perfekt für Menschen, bei denen nicht das „schnell-schnell“ im Vordergrund steht, sondern die Geduld, Zeit und Ruhe als elementare Werte betrachten und die diese Werte auch leben wollen.

© Andrea Dreher, Juni 2020