Januar 2024

Ich möchte das neue Jahr zum Anlass nehmen, um in den kommenden Monaten ein paar Redewendungen näher in Augenschein zu nehmen, die zunächst vielleicht nichts mit Kunst zu tun haben, uns aber dennoch zur Kunst führen können.

Es wird also um kleine Rückblicke und Querverweise in die Kunstgeschichte geben, es wird um Alltagsfloskeln gehen. Lassen wir uns überraschen, das Jahr ist noch jung.

Die Idee zu dieser Reihe kam mir nach meinem Vortrag im Cafe Eulenspiegel in Wasserburg am Bodensee, den ich "Das kleine ABC der Kunstgeschichte" genannt und am vergangenen Sonntag vor ca. 20 interessierten Personen gehalten hatte.

Sind wir gebildet, wenn wir viele Bilder gesehen haben?

"Ich bin im Bilde" … heißt, dass ich verstanden habe.

Bildmotiv: Roland Stratmann Levity

"Ich mache mir ein Bild von der Situation" bedeutet, dass ich mich eingehender mit etwas beschäftige.

Wir wissen, wie prägend unsere ersten 10 Lebensjahre sind.

In den ersten 6 Lebensjahren verständigen wir uns über Bilder, das haben wir alle getan, egal welche Bildungsschicht, egal welche Nationalität.

Wir waren alle Bildermenschen, bevor wir Wortmenschen wurden, wir haben die Welt erst über Bilderbücher kennengelernt und erst danach selbst gelesen und dabei auf die Bilder verzichtet. Wir haben erst gezeichnet und gemalt, bevor wir schreiben konnten und wollten.

Die moderne Gesellschaft flutet uns mit Bildern, wir schauen fern, wir googeln, wir sind auf instagram, wir knipsen eigene Fotos, jede:r ist inzwischen ein Bildermacher und eine Bilderkonsumentin, und doch ist die Berührungsangst mit der Bildenden Kunst NICHT geschrumpft.

Woran liegt das?

Zunächst ein Blick zurück.

Bildmotiv: Roland Stratmann, Arbeit aus der Serie "PostCut"

Was wir heute Kunst nennen, war in der Antike und bis ins Mittelalter ein Handwerk. Denn seit es Menschen gibt, entstehen Bilder … für die Nachwelt. Die Höhlenmenschen hinterließen uns Tiermotive an den Wänden und kleine Objekte. Die Antike huldigte ihren Göttern und hinterließ Tempel und Statuen, um der Nachwelt zu zeigen, welch eine Hochkultur herrschte.

Kunst war also ein System zwischen Auftraggebern und Auftragnehmern. Es gab Geld und Ruhm für die guten, aber es gab keine Freiheit. Der Maler hatte ein Porträt so aufzuführen, dass der/die Porträtierte sich gefiel. Trat das nicht ein, gab es kein Geld.

Einzelne Künstler waren besonders begabt und wenige Namen wurden überliefert, so z.B. der des Appelles, der berühmteste Maler der Antike, der unter Alexander d. Gr. lebte und arbeitete. Von ihm ist kein Bild erhalten, aber Texte, die seinen Ruhm bis heute untermauern.

Die Verbreitung des christlichen Glaubens ist ohne Bilder nicht zu denken. Der Klerus hatte die Hoheit über die Schrift (lateinische Bibel) und die Laien blieben Analphabeten und wurden über Bilder missioniert und informiert. Der Glaube an das Bild war und ist bis heute noch ein wichtiges Fundament des Glaubens und vor allem der Heiligenverehrung. Wir glauben an Bilder, denn Bilder geben dem Glauben ein Gesicht und einen Körper.

Menschen sehnen sich nach Bildern, denn ein Bild ist immer ein Gegenüber, angefangen beim eigenen Spiegelbild.

Der Adel und das Patriziertum hatten die Macht der Bilder weiter bedient, Könige beauftragten Hofkünstler mit Herrscherporträts für die Nachwelt. Die gesamte Machstruktur von Adel, Klerus und reichem Bürgertum wurde sozusagen über die Kunst erhalten und verifiziert. Weil es Bilder der Macht gab, gab es auch die Macht.

Bildmotiv: Sigrun C. Schleheck Im Gebirg

Wir leben in einer Welt der Selfies und der Posen und wir alle manipulieren unsere Bilder so, dass es uns gefällt, bzw. dass das Bild, das wir von uns haben, den anderen gefällt. Inzwischen hilft uns die KI dabei, wenn wir wollen.

Kunst soll also gefallen. Wer bestimmt, was gefällt, wo liegt das Korrektiv?

Jetzt wird’s spannend …

Die Kunst sollte also bis vor gut 100 Jahren dem Ruhm dienen, die Welt in Bildern verherrlichen und perfekte Fassaden hinterlassen.

Doch die Macht von Adel und Klerus bröckelte, das Selbstbewusstsein der Menschen stieg, das Analphabetentum nahm ab, mehre Menschen hatten Zugang zu Bildung und begannen, das alte System infrage zu stellen.

Künstler wehrten sich gegen Schönmalerei, sondern die suchten die Wahrheit.

Rembrandts Selbstporträts haben beispielsweise auch deswegen Kunstgeschichte geschrieben, weil dieser Maler sich nicht mehr als begabter Handwerker, sondern als Mensch malte. Das heißt, wir bekommen nicht mehr den gleichgeschalten und politisch korrekten Blick, sondern den persönlichen eines vom Leben gezeichneten Mannes. Das Individuum war seit der Renaissance auf dem Vormarsch.

Das gilt für beide Seiten, für die aktive und die passive. Während die Rezipienten tradierte Sehgewohnheiten nur langsam ablegen konnten und wollten, wurden die Künstler immer radikaler und immer mutiger.

Irgendwann kam der Punkt, dass Kunst nicht mehr die Realität abbilden, sondern diese interpretieren, also verstehen und übersetzen wollte.

Bildmotiv: Isa Dahl In Sicht

Die Abstraktion war geboren, die Abkehr vom Kopieren der Natur, der Kampf gegen das Epigonentum. Diese Büchse der Pandora war vielen nicht geheuer, vor allem nicht den Herrschenden und Mächtigen.
Denn mit dem Freiheitsgedanken verschoben sich die Prioritäten.

Und plötzlich hatte Kaiser Wilhelm II um 1900 Angst vor violetten Schweinen  …

Die Freiheit der Kunst war also irgendwann etabliert …, doch was war mit den Institutionen der Macht?

Wie sollte man ein Regime etablieren, wenn die Künstler sich nicht mehr als Handlanger anboten? Denn ohne Kunst keine Macht …

Also wurden Künstler eingesperrt, ermordet, mit Berufsverbot belegt usw. – das gilt bis heute.

Warum?

Weil die Freiheit der Kunst gefährlich werden kann, weil Kunst, wenn sie sich vom Auftrag befreit, Menschen zum Nachdenken bringen kann und will, weil Kunst den Gedanken freien Lauf lassen will.

Wer Kunst studiert und von Kunst lebt, ist also irgendwie immer verdächtig, so der Blick vieler Rezipienten.

Woran liegt das?

Weil wir Menschen uns leichter tun, wenn wir in Strukturen leben, weil unsere Gesellschaft genormt ist und rational geformt ist, weil wir ein JA und ein NEIN suchen, weil wir gewohnt sind, das Dinge und Alltagsabläufe richtig oder falsch sind.

Bildmotiv: Barbara Reck-Irmler Wandobjekt Vielleicht

Um nochmals auf unsere Bilder-Kindheit zurückzukommen, bedeutet das, dass wir irgendwann aufgehört haben, Bilder zu malen, weil diese nicht so präzise sind oder waren wie Worte oder Zahlen. Wir wurden erzogen, unseren eigenen Bildern zu misstrauen und nur noch auf fremde Bilder zu schauen.

Uns wurde eingeredet, dass Bilder nichts mehr mit Vernunft und Erwachsenenleben zu tun haben, ein weit verbreiteter Common Sense. Über Bilder wie Wahrheit zu suchen, war ein Tabu oder zumindest nicht, wofür sich die Zeit zu lohnen schien.

Warum?

Weil Bilder nicht nur eine Sicht auf die Dinge erlauben, sondern viele Perspektiven bedienen. Und vor allem: weil ein Bild uns als Betrachter herausfordert.

Kunstwerke können irritieren, sie können aufregen, sie können rätselhaft und geheimnisvoll sein, alles Faktoren, die Mühe machen und denen wir gerne aus dem Weg gehen.

Trauen wir uns!

Suchen Sie auf der Homepage meiner Galerie oder bei einem Ihrer nächsten Museumsbesuche das Kunstwerk, das Ihnen am wenigsten gefällt ... und überlegen Sie warum.

Laden Sie einen Freund, eine Freundin oder jemanden auf Ihrer Familie ein, dasselbe zu tun und vergleichen Sie Ihre Wahl. Im Gespräch werden Sie hören, was nicht gefällt, warum es nicht gefällt, und so schärfen Sie Ihre Sinne und vor allem auch Ihre Toleranz.

Denn NEIN sagen, ist einfach, aber noch einfacher ist es, das vermeintlich Schöne und Bequeme zu suchen.

Versuchen Sie also zwingend, die Kunst rational verstehen zu wollen und bauen Sie keine Vergleiche im Kopf auf.

Seien Sie einfach im Bilde ... nicht mehr und nicht weniger!

Bildmotiv: Martin Sauter Fotocollage 204x2